Gegen die Wiedereinführung des Ordnungsrechts - gegen die politische Disziplinierung der Studierendenschaften
In den letzten Wochen wurden Debatten über politische Konflikte und Meinungsäußerungen an Hochschulen im Kontext des Angriffs der Hamas auf Israel und der darauffolgenden Kriegshandlungen Israels in Gaza zunehmend erhitzt geführt. Dabei werden zum Teil qualitativ gänzlich verschiedene Ereignisse zusammen verhandelt und undifferenziert miteinander vermengt. Wir sehen uns aufgrund der hochschulpolitischen Forderungen nach der Wiedereinführung des Ordnungsrechts über die Studierenden im Rahmen einer zunehmenden Eskalation dazu aufgefordert, uns diesbezüglich zu positionieren.
Wir beobachten lauter werdende Appelle von Politik und Medienschaffenden, dass Hochschulen endlich \'hart durchgreifen\' müssten. Es ist zu beobachten, wie der notwendige Schutz jüdischer Studierender vor Antisemitismus als Vorwand für das Durchsetzen repressiver und autoritärer Politiken genutzt wird. Dies wird insbesondere von den politischen Kräften vorangetrieben, die seit Jahren dem Rechtsruck und der Salonfähigkeit antisemitischer und rassistischer Ideologien Vorschub leisten. Der erste vorliegende Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des Ordnungsrechts in Berlin ist von der AfD-Fraktion eingebracht worden (FN 1). Ein Ausbau von Repressionsmitteln für die Universitäten soll die politisch geladene Situation \'befrieden\'. Auch von Seiten der GroKo steht eine Verschärfung des Berliner Hochschulgesetzes (BerlHG) im Raum, mit der das erst 2021 abgeschaffte Ordnungsrecht über die Studierenden wieder eingeführt werden soll. Laut dem Tagesspiegel plant die Regierungskoalition, bis zur Osterpause einen derartigen Gesetzesentwurf zu verabschieden (FN 2).
Kontext 1: Angriff auf Lahav Shapira
Die politische Forderung nach der Wiedereinführung des Ordnungsrechts wurde insbesondere in Folge des gewalttätigen Angriffs auf Lahav Shapira in der Nacht auf den 3. Februar 2024 am Rosenthaler Platz laut, da der Angreifer ebenfalls an der FU immatrikuliert ist. Als Referent*innenRat der Humboldt-Universität sprechen wir Lahav Shapira unsere Anteilnahme aus und verurteilen den brutalen antisemitischen Angriff auf ihn zutiefst. Wir wünschen Lahav eine schnelle und gute Genesung und erwarten eine angemessene und gründliche Aufklärung der Tatumstände, insbesondere auch des Tatmotivs.
Es ist zentrale Aufgabe der Hochschulen, Schutzbedürfnisse jüdischer Hochschulmitglieder ernst zu nehmen, sowie antisemitische Diskriminierung und die Gewalt, in der diese mündet, zu verhindern. Es ist eindeutig, dass im Klima einer von antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus und Antisemitismus geprägten deutschen Debatte über die humanitäre und politische Situation in Israel und Palästina das universitäre Umfeld für jüdische, palästinensische und israelische Studierende unsicherer, belastender und stetig unzumutbarer geworden ist. Dies ist von Betroffenengruppen stetig wiederholt worden.
Kontext 2: Veranstaltungsstörung an der HU
Im selben Debattenkontext und oft ohne die nötige Differenzierung wurde in den vergangenen Wochen viel über eine Podiumsdiskussion an der HU berichtet, die von propalästinensischen Aktivist*innen gestört worden war. Die Veranstaltung, die am 10. Februar unter dem Titel \"Constitutional Challenges – Judging in a Constitutional Democracy\" stattfand, sollte ein Austausch zwischen verschiedenen Richter*innen oberster Gerichte zu Herausforderungen der Rechtsprechung in einer rechtsstaatlichen Demokratie sein. Auf dem Podium saß unter anderem auch eine Richterin des israelischen Obersten Gerichts Daphne Barak-Erez. Zu Beginn der Veranstaltung wurde die Moderation von einer Person unterbrochen, die ein Statement verlas. Die \"student coalition berlin\" kritisierte in diesem die Einladung der Richterin Daphne Barak-Erez und verwies dabei auf verschiedene Urteile des Israelischen Supreme Court (FN 3). Die Intervention wurde von der Moderation zugelassen. Den Aktivist*innen wurde dann ein Gesprächsangebot gemacht, das zumindest Teile der Anwesenden nicht bereit waren anzunehmen. Frau Barak-Erez wollte auf das Gesagte reagieren, was einzelne Aktivist*innen verunmöglichten. Nach einer sich intensivierenden verbalen Auseinandersetzung wurde die Veranstaltung abgebrochen und ca. eine Stunde später in anderen Räumlichkeiten fortgesetzt.
Universitäten als Austragungsorte politischer Konflikte
In der aktuellen Berichterstattung werden teilweise verschiedenste Vorfälle an und um die Berliner Hochschulen vermischt, ohne dass eine notwendige Differenzierung in Bezug auf die Einordnung und in Bezug auf die erforderlichen Maßnahmen erfolgt. Wir verwehren uns dem Generalverdacht auf Antisemitismus, dem sich propalästinensischer Protest in öffentlichen Diskursen ausgesetzt sieht. Anklagen gegen Israel in Bezug auf Kriegsverbrechen und Genozid werden derzeit breit diskutiert und juristisch verhandelt. Kriegshandlungen durch die israelische Armee in Gaza und das sich immer weiter verstärkende humanitäre Leid dort belasten viele Hochschulmitglieder enorm (FN 4). Nicht nur Studierende trauern und bangen um Familienmitglieder, Freund*innen, Menschen und Orte, mit denen sie verbunden sind. Sorgen, Ängste und Wut verstärken sich jüngst mit der Luftoffensive auf Rafah noch mehr. Propalästinensischer Protest wurzelt nicht zuletzt in tiefem Schmerz und Leid, was sich auf die Formen und die Intensität des Protests auswirken kann. Als solidarische Studierendenschaft sollten wir Räume für Trauer und Protest schaffen und schützen.
An Universitäten wird gerade ein beachtlicher Teil des propalästinensischen Protests und proisraelischen Gegenprotests ausgetragen. Anlässlich dessen wird nun über erweiterte Repressionsbefugnisse an Universitäten diskutiert. Es ist uns daher wichtig, die besonders schützenswerte Rolle von Universitäten im gesellschaftlichen Diskurs weiter einzuordnen: Hochschulen haben die Ressourcen, die Möglichkeit und auch die Verantwortung, in aufgeheizten gesellschaftlichen Situationen Diskursräume offen zu halten. Das Verständnis von Universitäten als reine Lehrveranstaltungsräume lehnen wir entschieden ab, sondern verstehen diese gegenteilig als Ort kritischer Auseinandersetzung und Intervention. Das ergibt sich aus ihrer hervorgestellten Bedeutung für Debattenkultur und Wissensproduktion. Universitäten müssen dementsprechend Räume schaffen, in denen vielfältige Positionen und kontroverse Auseinandersetzungen aufeinandertreffen können. Auch unbequeme Meinungen und Protestformen müssen und können ausgehalten werden. In diesem Rahmen verweisen wir auch darauf, dass der Ausschluss von pro-palästinensischen Stimmen aus dem Diskurs (wie es an einigen Hochschulen bereits passiert ist), kein angemessenes Vorgehen ist (FN 5). Hochschulen müssen ihren zentralen Beitrag dazu leisten, gesellschaftlich-politische Debatten kritisch zu rahmen und mit wissenschaftlichen Grundlagen zu versorgen. Die Grenze der Debattenkultur, auf die wir uns berufen, verläuft selbstverständlich dort, wo aus Meinungsäußerung Menschenfeindlichkeit wird und wo Meinungsäußerungen antisemitisch werden. Wo diese Grenze überschritten wird, muss am konkreten Fall beurteilt werden; die Definition von Antisemitismus ist dabei oft nicht einfach und vielfach selbst wissenschaftlich umstritten (FN 6).
Politische Meinungsäußerungen aber zum Gegenstand von Repressions- und Ordnungsmaßnahmen zu machen und diese pauschal zu diffamieren, ist ein autoritärer Rückschritt, der Hochschulen nicht zu einem sichereren oder diskriminierungsfreieren Ort machen wird.
Das Ordnungsrecht - kein Allheilmittel
Das Ordnungsrecht in seiner bisherigen Form entstand im Kontext der 68er-Bewegung mit dem Ziel, die studentische Politisierung der Hochschulen und Protest an selbigen gezielt unterbinden zu können. In der Praxis bedeutete es ein Mittel gegen studentischen Protest, etwa durch Hörsaalbesetzungen für Klima oder Bildungsstreiks. Die Zwangsexmatrikulation als Ordnungsmaßnahme stattete Universitätsleitungen mit einem Machtinstrument aus, das pauschal die Position aller Studierenden schwächte. Das Ordnungsrecht ist in diesem Entstehungskontext als fundamental politisches Mittel zu interpretieren, das den \'geordneten und störungsfreien Betriebsablauf an den Hochschulen\' sichern soll und sich seiner Entstehungsgeschichte entsprechend einer politisierten Universität entgegenstellt.
Im Verlauf der Novellierung des Berliner Hochschulgesetzes 2021 wurde das Ordnungsrecht über die Studierenden gestrichen (§ 16 BerlHG, neue Fassung). Die Abschaffung hatte dabei nicht nur etwas mit dem reaktionären Grundgehalt des rechtlichen Mittels zu tun, sondern auch mit der faktischen Unbrauchbarkeit. Weil eine Exmatrikulation einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte (Berufsfreiheit, Art. 12 GG) darstellt, dieser Eingriff mit dem Schutzgut abgewogen werden muss und darüber hinaus auch geeignet sein muss, die Störung des Hochschulbetriebes zu beenden, ist eine Exmatrikulation praktisch nie gerechtfertigt. Das Ordnungsrecht bot so zudem keine verlässliche Grundlage, Täter*innen sexualisierter Gewalt auszuschließen und Studierende vor Übergriffen durch andere Studierende zu schützen.
Repression statt Schutz
Das mindert jedoch nicht die Gewichtigkeit der Eingriffsmöglichkeit. Selbst wenn Ordnungsmaßnahmen in einem gerichtlichen Verfahren in den meisten Fällen keinen Bestand haben, sorgt allein die Möglichkeit der Ordnungsmaßnahme für einen repressiven Effekt auf politische Prozesse an Hochschulen. Die Sorge, möglicherweise ein Gerichtsverfahren finanzieren zu müssen, dürfte für die meisten Studierenden ein ernsthafter Faktor sein. Durch Exmatrikulation können BAföG und Wohnsituation im Studierendenwohnheim wegbrechen. Für Studierende, deren Aufenthaltsstatus an ihrem Studierendenstatus hängt, kann eine Zwangsexmatrikulation das Wegbrechen jeglicher Existenzgrundlage bis hin zur Abschiebung bedeuten.
Gleichzeitig bedeutet das hochschulrechtliche Ordnungsrecht eine Ausweitung strafender Logiken, die nicht etwa durch Gerichte, sondern durch Hochschulleitungen durchgesetzt werden. Dass die reine Bestrafung wenig zur Bekämpfung von antisemitischem Gedankengut und zur Prävention von Diskriminierung und Gewalt gegen jüdische Studierende beiträgt, ist für uns offensichtlich.
Darüber hinaus besteht bei einem so starken Repressionsmittel die große Gefahr des politischen Missbrauchs durch die Universitäts- und Hochschulleitungen. In Zeiten des fortschreitenden Rechtsrucks ist der Ausbau von Repressionsmöglichkeiten an der Universität keine gute Idee.
Ordnungsmaßnahmen sind weder schnelle noch effektive Mittel, um gegen Gewalt am Campus oder gegen einzelne Studierende vorzugehen. Wer sie jetzt als schnelles Allheilmittel fordert, hat den Gehalt des Ordnungsrechts nicht verstanden. Bei der Forderung nach einer Wiedereinführung der Zwangsexmatrikulation handelt es sich vielmehr um eine opportunistische Scheinmaßnahme, in der sich die Berliner Regierungsparteien CDU und SPD politisch profilieren und autoritäre Repressionsmöglichkeiten ausbauen wollen. Einmal mehr wird der Schutz marginalisierter Gruppen von konservativer und rechter Politik vorgeschoben, um autoritäre Maßnahmen durchzudrücken, während ansonsten viel Stimmung gemacht wird und sich wenig um die Anliegen von Betroffenen gekümmert wird. Auf diese Logiken dürfen wir uns nicht einlassen.
Fazit
Gleichzeitig sind Universitäten im derzeitigen Rahmen alles andere als handlungsunfähig: Sinnvolle Ansatzpunkte, um in aufgeladenen Situationen Veranstaltungen und universitären Alltag zu gestalten, sehen wir zum Beispiel in starken Beauftragtenpositionen und Betroffenenvertretungen mit tatsächlicher Handlungsmacht. Zu verweisen ist hier unter anderem auf die sich schleppende Einführung von Antidiskriminierungsbeauftragten an den Hochschulen durch die 2021er BerlHG Novelle (§ 59a BerlHG). An der HU stehen sie seit Ende letzten Jahres auch in der neuen Verfassung (FN 7).
Für uns steht fest, dass eine Wiedereinführung des Ordnungsrechts an Universitäten im Kampf gegen antisemitische Diskriminierung und Gewalt ein völlig ungeeignetes Mittel darstellt. Universitäten würden gut daran tun, sich um eben solche wirksamen Maßnahmen zu bemühen. Eine Wiedereinführung des Ordnungsrechts, wie es der Berliner Senat und auch die Präsidentin der HU Julia von Blumenthal fordern, ist abzulehnen (FN 8).
Die angekündigte Änderung des Berliner Hochschulgesetzes ist eine Kampfansage an die Berliner Studierendenschaften. Sie ist eine Kampfansage an politische Organisation an den Berliner Hochschulen und an jegliche Politisierung der Universitäten. Unabhängig von den eigenen politischen Positionen zu Äußerungen während der Proteste an der FU und der HU muss allen Berliner Studierenden klar sein, dass eine Wiedereinführung des Ordnungsrechts einen gewaltigen Rückschritt für alle Studierenden bedeuten würde.
Als Vertreter*innen der etwa 40.000 HU-Studierenden, deren politische und universitäre Teilhabe hier diszipliniert werden soll, müssen wir daher widersprechen und lehnen das Ordnungsrecht entschieden ab. Es gilt, sich dieser Wiedereinführung von Repressionsinstrumenten geschlossen und entschieden entgegenzustellen.
Gegen die autoritäre Disziplinierung der Studierendenschaften!
FN 1: Antrag der AfD-Fraktion im AGH Berlin, 13.02.2024: https://www.parlament-berlin.de/ados/19/IIIPlen/vorgang/d19-1438.pdf (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 2: Tilman Warnecke, Tagesspiegel am 19.02.2024: https://www.tagesspiegel.de/wissen/oberstes- ziel-judische-studierende-zu-schutzen-czyborra-will-kurzfristig-massnahmen-fur-berlins-unis-umsetzen-11233288.html (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 3: Das ganze Statement vom 09.02.2024 findet sich auf dem Instagram-Account@student_coalition_berlin: https://www.instagram.com/p/C3IWoausaMc/?igsh=MWI5YXp0a3k1NGJ2cQ== (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 4: Das Statement von Martin Griffiths, UN-Unter-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Leiter des OCHA vom 05.01.2024: https://www.unocha.org/news/un-relief-chief-war-gaza-must-end (zuletzt abgerufen am 20.02.2024) sowie das Statement der WHO vom 23.12.2023: https://www.who.int/news/item/21-12-2023-lethal-combination-of-hunger-and-disease-to-lead-to-more-deaths-in-gaza (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 5: Siehe z.B. Ausladung von Forensic Architecture an der RWTH Aachen, Stellungnahme der RWTH vom 15.12.2024: https://www.rwth-aachen.de/cms/root/die-rwth/aktuell/pressemitteilungen/dezember/~bfcqhf/stellungnahme-zum-montagabendgespraech/ (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 6: Micha Brumlik im Gespräch mit Axel Rahmlow, Deutschlandfunk vom 26.03.2021: https://www.deutschlandfunkkultur.de/jerusalemer-erklaerung-antisemitismus-neu-definiert-100.html (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 7: Pressemitteilung der HU Berlin vom 11.12.2024: https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/dezember-2023/nr-231211 (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)
FN 8: Yannick Ramsel, Alisa Schellenberg, Arnfrid Schenk und Anna-Lena Scholz, ZEIT Campus am 15.02.2024: https://www.zeit.de/2024/08/pro-palaestinensische-demonstrationen-universitaeten- berlin?freebie=1fa5c963 (zuletzt abgerufen am 20.02.2024)